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„Entspann dich, Tess.“ Bens Hand kam unten auf ihrem Kreuz zu liegen, sein Kopf war dicht an ihrem Ohr. „Falls du’s noch nicht gemerkt hast, das ist ein Cocktailempfang und keine Beerdigung.“
Zum Glück, dachte Tess und sah auf ihr granatrotes Abendkleid hinunter. Obwohl das schlichte Hängerkleid, das sie in einer Secondhand-Boutique erstanden hatte, eines ihrer Lieblingskleider war, war sie die Einzige in einem Meer von Schwarz, die etwas Farbiges trug. Sie fühlte sich fehl am Platz, fiel völlig aus der Reihe.
Aber eigentlich tat sie das ja immer. Sie war es nicht gewohnt, zu anderen Leuten zu passen, das war schon so, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie war immer … irgendwie anders gewesen. Etwas, das sie nicht verstand und von dem sie gelernt hatte, es zu verdrängen, hatte sie immer abgesondert vom Rest der Welt. Sie konnte nur so tun als ob, sich scheinbar anpassen, versuchen dazuzugehören - aber es war meist fruchtlos, so wie jetzt auch, in diesem überfüllten Raum voller Fremder.
Außerdem hatte Tess zunehmend ein unbehagliches Gefühl, so als braute sich um sie ein mächtiger Sturm zusammen. Als versammelten sich rings umher unsichtbare Mächte, um sie auf eine dünne, schwankende Planke hinauszudrängen. Wenn sie jetzt auf ihre Füße hinuntersah, dachte sie, war dort nur noch ein gähnender Abgrund. Ein tiefer, endloser Fall.
Sie massierte sich den Nacken, fühlte einen stumpfen Schmerz in den Sehnen unter ihrem Ohr.
„Alles in Ordnung?“, fragte Ben. „Du bist schon den ganzen Abend so still.“
„Wirklich? Entschuldige bitte. Es war keine Absicht.“
„Amüsierst du dich?“
Sie nickte mit einem gezwungenen Lächeln. „Die Ausstellung ist wirklich fantastisch, Ben. Im Programm steht, dass es eine geschlossene Sponsorenveranstaltung ist, wie hast du es denn geschafft, an die Karten zu kommen?“
„Ach, ich hab noch ein paar Connections in der Stadt.“ Er zuckte die Achseln, dann leerte er sein Champagnerglas. „Jemand hat mir noch einen Gefallen geschuldet. Und es ist nicht, was du denkst.“ Er klang tadelnd, als er ihr das leere Mineralwasserglas aus der Hand nahm. „Ich kenne den Barkeeper, und der kennt eins der Mädchen, das bei diesen Events hier im Museum arbeitet. Weil ich doch wusste, wie sehr du Skulpturen liebst, habe ich ihn vor ein paar Monaten angehauen, ob er mir nicht zwei Karten für diesen Empfang besorgen kann.“
„Und der Gefallen?“, fragte Tess argwöhnisch. Sie wusste, dass Ben sich manchmal mit recht zwielichtigen Gestalten herumtrieb. „Was hast du für diesen Typ getan?“
„Sein Wagen war in der Reparatur. Ich hab ihm für einen Abend meinen Bus geliehen, für eine Hochzeit, auf der er arbeiten musste. Das ist alles. Kein krummes Ding, nichts Böses dahinter.“ Ben warf ihr sein berühmtes schmelzendes Lächeln zu. „Hey, ich hab’s dir doch versprochen.“
Tess nickte vage.
„Wo wir schon beim Thema Barkeeper sind - wie wär’s mit noch einem Drink? Nimmt die Dame wieder Mineralwasser mit Limettenschnitz?“
„Ja, danke.“
Während Ben sich durch die Menge einen Weg zur Bar bahnte, nahm Tess ihre Wanderung durch die Ausstellung im großen Ballsaal wieder auf. Hunderte von Skulpturen, die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte repräsentierten, waren dort in hohen Schauvitrinen aus Plexiglas ausgestellt.
Tess geriet hinter eine Gruppe blonder, gebräunter, juwelenbehängter Society-Damen, die ihr die Sicht auf eine Vitrine mit italienischen Terrakottafigurinen verstellten. Sie unterhielten sich eifrig über das verpfuschte Stirnlifting von Mrs. Soundso und die Affäre einer gewissen Mrs. Sonstwie mit dem Tennistrainer des Countryclubs, der nicht einmal halb so alt war wie sie. Tess stand direkt hinter ihnen und versuchte wirklich, nicht zuzuhören, sondern sich nur die elegante Skulptur, Cornacchinis Schlafenden Endymion, aus der Nähe anzusehen.
Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor. Sowohl als Bens Begleiterin heute Abend als auch unter diesen Leuten, reichen Sponsoren und Gönnern des Kunstmuseums, denen die Veranstaltung eigentlich galt. Das waren eher Bens Kreise als ihre. In Boston geboren, war Ben mit Kunstmuseen und Theater aufgewachsen.
Ihre kulturelle Bildung hatte sich auf Landwirtschaftsmessen und das kleine Kino im Dorf beschränkt. Was sie über Kunst wusste, war im besten Fall dürftig. Aber ihre Liebe zur Bildhauerei war für sie immer schon so etwas wie eine Flucht aus ihrem Alltag gewesen, besonders in den schweren Tagen daheim im ländlichen Illinois.
Damals war sie eine andere Person gewesen. Teresa Dawn Culver kannte sich mit Hochstaplern aus, dafür hatte ihr Stiefvater gesorgt, in jeder Hinsicht ein mustergültiger Bürger: erfolgreich, freundlich, mit festen moralischen Grundsätzen.
Aber keine dieser Eigenschaften traf wirklich auf ihn zu. Jetzt war er schon seit fast neun Jahren tot, und auch ihre Mutter, von der sie sich entfremdet hatte, war vor Kurzem gestorben.
Was Tess anging, hatte sie diese leidvolle Vergangenheit mit ihrem Umzug durch den halben Kontinent endgültig hinter sich gebracht.
Wenn sie doch auch ihre Erinnerungen loswerden könnte.
Das schreckliche Wissen, was sie getan hatte …
Tess konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die eleganten Linien des Endymion. Als sie die Terrakottafigurine aus dem achtzehnten Jahrhundert in sich aufnahm, begannen die feinen Härchen in ihrem Nacken sich plötzlich aufzurichten. Hitze überströmte sie - nur sehr kurz, aber intensiv genug, dass sie sich nach ihrer Quelle umsah. Aber da war nichts. Die Gruppe tratschender Frauen ging weiter, und dann war Tess mit der Statue allein.
Wieder warf sie einen Blick in die Schauvitrine, ließ sich von der Schönheit des Kunstwerkes davontragen zu einem Ort des Friedens und des Trostes, an dem ihre privaten Sorgen nichts zu suchen hatten.
„Exquisit.“
Eine tiefe Stimme, mit einem leichten, eleganten Akzent gefärbt, riss sie aus ihren Gedanken. Dort, auf der anderen Seite des gläsernen Schaukastens, stand ein Mann. Tess sah in whiskyfarbene Augen mit dicken, tuscheschwarzen Wimpern. Wenn sie schon dachte, dass sie in dieser Nobelveranstaltung fehl am Platz wirkte, dann tat es dieser Typ erst recht.
An die zwei Meter Dunkelheit starrten sie mit falkenhaften Augen und einem ernsten Selbstbewusstsein an, das fast schon bedrohlich wirkte. Er war ganz in Schwarz gekleidet, alles an ihm war schwarz: die schimmernden Wellen seines Haares, die breiten Falten seines Ledermantels, das hautenge Hemd, seine langen Beine, die offenbar in schwarzen Drillichhosen steckten.
Trotz seiner unpassenden, zwanglosen Aufmachung trug er ein Selbstbewusstsein zur Schau, als gehörte ihm das Museum.
Er strahlte eine Aura von Macht aus, auch wenn er einfach nur ganz ruhig dastand. Aus allen Ecken des Raumes starrten Leute ihn an, nicht etwa verächtlich oder missbilligend, sondern mit Ehrerbietung und einer respektvollen Vorsicht - die auch Tess nicht umhin konnte zu fühlen. Sie merkte jetzt, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte, und sah schnell wieder auf die Skulptur, um der Hitze seines unerschütterlichen Blickes auszuweichen.
„Es ist - sehr schön“, stotterte sie und hoffte inständig, dass sie nicht so aufgescheucht aussah, wie sie sich gerade fühlte.
Unerklärlicherweise raste ihr Herz, und der seltsame, prickelnde Schmerz seitlich an ihrem Hals war wieder zurückgekehrt. Sie berührte die Stelle unter ihrem Ohr, wo nun ihr Puls dröhnte, und versuchte, ihn wegzumassieren. Aber das Gefühl wurde nur noch intensiver, es war wie ein Summen und Rauschen in ihrem Blut. Sie fühlte sich aufgekratzt und nervös, sie brauchte frische Luft. Als sie zum nächsten Exponat weitergehen wollte, kam der Mann um den Glaskasten herum und trat ihr in den Weg.
„Cornacchini ist ein Meister“, sagte er, der Name ein seidiges Grollen wie das Schnurren einer riesigen Katze. „Ich kenne nicht alle seine Werke, aber meine Eltern zu Hause in Italien waren große Kunstliebhaber.“
Italien. Das erklärte seinen wunderbaren Akzent. Da sie nun keinen einfachen Abgang mehr machen konnte, nickte Tess höflich. „Sind Sie schon lange in den Staaten?“
„Ja.“ Ein Lächeln umspielte seinen sinnlichen Mund. „Schon sehr, sehr lange. Mein Name ist Dante“, fügte er hinzu und hielt ihr seine riesige Hand hin.
„Tess.“ Sie nahm seinen Handschlag an und keuchte beinahe auf, als sich seine Finger um ihre schlossen: Das Aufeinandertreffen ihrer Hände war von einer geradezu elektrischen Intensität.
Du lieber Himmel, sah dieser Typ gut aus. Nicht gut im Sinne von Model, sondern schroff und maskulin, mit einem eckigen Kinn und schmalen Wangenknochen. Seine vollen Lippen konnten jedes der collagengespritzen Society-Weiber auf diesem Empfang vor Neid zum Weinen bringen. Er hatte einfach eines dieser Gesichter, die Künstler seit Jahrhunderten versuchten, in Ton und Marmor einzufangen. Sein einziger sichtbarer Makel war ein Knick in seinem sonst geraden Nasenrücken.
Ein Schlägertyp? , fragte sich Tess, und ihr Interesse schwand bereits teilweise wieder. Für gewalttätige Männer hatte sie nichts übrig. Auch nicht, wenn sie aussahen und sich anhörten wie gefallene Engel.
Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln und schickte sich an weiterzugehen. „Viel Vergnügen noch auf der Ausstellung.“
„Warten Sie. Warum laufen Sie weg?“ Seine Hand kam auf ihrem Unterarm zu liegen, die Berührung war nur ganz leicht, aber dennoch blieb sie sofort stehen. „Haben Sie Angst vor mir, Tess?“
„Nein.“ Was für eine komische Frage. „Sollte ich?“
Etwas flackerte in seinen Augen auf und verschwand sofort wieder.
„Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte, dass Sie bleiben, Tess.“
Wieder und wieder sprach er ihren Namen aus, und jedes Mal, wenn ihr Name von seiner Zunge rollte, fühlte sie, wie ein Teil ihrer Nervosität schwand. „Schauen Sie, ähm, ich bin mit jemandem hier“, platzte sie heraus, das war die einfachste Entschuldigung, die ihr einfiel.
„Ihr Freund?“, fragte er und sah argwöhnisch zur Bar hinüber, wohin Ben verschwunden war. „Sie wollen nicht, dass er zurückkommt und sieht, wie wir uns unterhalten?“
Es klang lächerlich, und sie wusste es. Ben hatte keine Ansprüche auf sie, und selbst wenn sie noch zusammen wären, würde sie sich nicht so sehr von ihm dominieren lassen, dass sie sich nicht mit einem anderen Mann unterhalten konnte. Denn das war alles, was sie gerade mit Dante tat. Und trotzdem fühlte es sich seltsam intensiv und intim an. Es fühlte sich ungehörig an.
Und gefährlich. Weil sie sich trotz allem, was sie darüber gelernt hatte, wie sie sich schützen, wie sie wachsam bleiben konnte, spürte, dass dieser Fremde sie magisch anzog.
Mehr noch, sie fühlte sich auf eine unerklärliche Weise mit ihm verbunden.
Er lächelte sie an, dann begann er, langsam um den Cornacchini herumzugehen. „Schlafender Endymion“, las er von der Plakette ab, die unten an der Statue des mythischen jungen Hirten angebracht war. „Wovon träumt er, was denken Sie, Tess?“
„Sie kennen die Geschichte nicht?“ Auf sein unmerkliches Kopfschütteln hin trat Tess zu ihm, fast war ihr dabei, als bewegte sie sich gar nicht aus eigenem Antrieb. Sie konnte nur einfach nicht stehen bleiben, bis sie direkt neben Dante stand, sodass ihre Arme sich berührten. Zusammen sahen sie in die gläserne Schauvitrine.
„Endymion träumt von Selene.“
„Der griechischen Mondgöttin“, murmelte Dante neben ihr, und seine tiefe Stimme vibrierte in ihren Knochen. „Sind sie ein Liebespaar, Tess?“
Ein Liebespaar.
Tief in ihr begann Wärme zu strömen, als sie ihn die Worte sprechen hörte. Er hatte es leichthin gesagt, doch Tess hatte die Frage gehört, als wäre sie einzig für ihre Ohren bestimmt. Das tiefe, kitzelnde Summen seitlich an ihrem Hals verstärkte sich wieder, pochte im Takt ihres Herzschlags, der sich plötzlich beschleunigte. Sie räusperte sich, fühlte sich seltsam ruhelos und aus dem Gleichgewicht gebracht, all ihre Sinne schärften sich.
„Endymion war ein gut aussehender junger Schäfer“, sagte sie schließlich, während sie sich ein Mythologieseminar am College in Erinnerung rief. „Selene war, wie Sie sagten, die Mondgöttin.“
„Ein Mensch und eine Unsterbliche“, bemerkte Dante. Sie konnte seinen Blick auf ihrem Körper spüren, diesen whiskyfarbenen Blick, mit dem er sie ansah. „Keine ideale Kombination.
Einer von beiden muss immer sterben.“
Tess sah ihn an. „Das ist einer der seltenen Fälle, wo es gut gegangen ist.“ Sie starrte die Skulptur an, um Dantes Blick und der Bestätigung auszuweichen, dass er sie immer noch ansah. Er stand so nah bei ihr, dass sie die Hitze seines Körpers spürte.
Wieder redete sie los, um den Raum mit etwas anderem als der knisternden Spannung zu füllen, die sie umgab. „Selene konnte nur nachts mit Endymion zusammen sein. Sie wollte für immer bei ihm bleiben, also bat sie Zeus, ihrem Geliebten ewiges Leben zu schenken. Er gewährte es ihr und ließ den Hirten in einen ewigen Schlaf versinken. Nun wartet er jede Nacht darauf, dass seine geliebte Selene kommt und ihn besucht.“
„Und wenn sie nicht gestorben sind …“, knurrte Dante, eine Spur Zynismus in der Stimme. „Nichts als Mythen und Märchen.“
„Glauben Sie nicht an die Liebe?“
„Tun Sie’s denn, Tess?“
Sie sah zu ihm auf, erwiderte seinen durchdringenden, prüfenden Blick, der sich so intim wie eine Liebkosung anfühlte.
„Ich würde schon gerne daran glauben“, sagte sie, nicht sicher, warum sie es ihm gegenüber zugab. Es verwirrte sie, dass sie ihm das überhaupt gesagt hatte. Plötzlich nervös geworden, schlenderte sie zu einer anderen Vitrine mit Arbeiten von Rodin hinüber.
„Was ist Ihr Interesse an Bildhauerei, Dante? Sind Sie Künstler oder Kunstliebhaber?“
„Weder noch.“
„Oh.“ Dante hielt mit ihr Schritt, blieb neben ihr an der Vitrine stehen. Tess hatte von Anfang an gedacht, dass er aus dem Rahmen fiel, aber als sie ihn nun reden hörte, ihn aus der Nähe sah, musste sie zugeben, dass er etwas unleugbar Kultiviertes an sich hatte. Obwohl er aussah, als sei er einem Actionfilm der Brüder Wachowski entsprungen, spürte sie unter Leder und Muskeln eine Weltgewandtheit, die sie überraschte und faszinierte. Wahrscheinlich mehr als sie sollte. „Was dann? Sind Sie ein Sponsor des Museums?“
Er schüttelte den dunklen Kopf.
„Dann sind Sie vielleicht bei der Security?“, riet sie.
Das würde mit Sicherheit das Fehlen einer formellen Abendgarderobe und diese laserscharfe Intensität erklären, die von ihm ausging. Vielleicht war er von einem dieser hochkarätigen Sicherheitsunternehmen, die von Museen oft engagiert wurden, um bei öffentlichen Anlässen ihren Sammlungsbestand zu schützen.
„Es gibt hier etwas, das ich sehen wollte“, erwiderte er, seine hypnotischen Augen unablässig auf sie gerichtet. „Das war auch der einzige Grund, warum ich gekommen bin.“
Etwas an der Art, wie er sie ansah, als er es sagte - als sähe er direkt in sie hinein - , versetzte ihr einen elektrischen Schlag. Sie war in ihrem Leben oft genug angemacht worden, um zu erkennen, wenn ein Typ eine bestimmte Masche bei ihr versuchte.
Aber das hier war anders.
Dieser Mann erwiderte ihren Blick mit einer Intimität, die besagte, dass sie ihm bereits gehörte. Ohne draufgängerisches Getue, ohne Drohung, es war einfach eine Tatsache.
Es brauchte nicht viel dazu, sich seine riesigen Hände auf ihrem Körper vorzustellen, wie sie ihre nackten Schultern und Arme streichelten. Seinen sinnlichen Mund, wie er sich an den ihren presste, seine Zähne, die sie leicht in den Hals bissen.
Exquisit.
Tess starrte zu ihm auf, betrachtete den leicht geschwungenen Bogen seiner Lippen, die sich nicht bewegt hatten, obwohl sie ihn eben sprechen gehört hatte. Er näherte sich ihr, ungeachtet der wogenden Menge - niemand schien sie mehr zu bemerken - , und fuhr ihr mit dem Daumen zärtlich über die Wange.
Tess war außerstande, sich zu rühren, als er sich herabbeugte und mit dem Mund die Kurve ihres Kiefers streifte.
Hitze flammte in ihrem Innersten auf, ein langsames Brennen, das den Rest ihres Verstandes zum Schmelzen brachte.
Ich bin heute Abend wegen dir gekommen.
Sie musste ihn falsch verstanden haben - wenn man davon absah, dass er kein Wort gesagt hatte. Und doch war Dantes Stimme in ihrem Kopf, tröstend und beruhigend, wo sie eigentlich beunruhigt sein sollte. Er machte, dass sie ihm glaubte - obgleich ihre Vernunft ihr sagte, dass gerade etwas Unmögliches mit ihr passierte.
Schließ die Augen, Tess.
Ihre Augenlider schlossen sich, und dann presste sich sein Mund in einem weichen, hypnotischen Kuss auf ihren. Das gibt’s doch nicht, das passiert doch nicht wirklich, dachte Tess verzweifelt. Sie ließ es doch nicht einfach geschehen, dass dieser Mann sie küsste, oder? Einfach so, mitten in einem Raum voller Leute?
Aber seine Lippen lagen warm auf ihren, sanft knabberten seine Zähne an ihrer Unterlippe, er sog an ihr und ließ wieder los. Und dann, einfach so, war der plötzliche, überraschende Kuss vorbei. Und Tess wollte mehr.
Gott, wie sie ihn wollte.
Sie konnte ihre Augen nicht öffnen, so sehr hämmerte ihr Blut in den Schläfen, jeder Teil ihres Körpers war heiß vor Begehren und erfüllt von einer seltsamen, unmöglichen Sehnsucht.
Tess schwankte ein wenig, keuchend und atemlos, verwundert über diesen plötzlichen Ansturm des Begehrens. Und dann, übergangslos, spürte sie eine kühle Brise auf ihrer Haut, die eine Gänsehaut hinterließ.
„Tut mir leid, das hat jetzt etwas gedauert.“ Bens Stimme ließ sie die Augen rasch aufmachen, als er mit Drinks zu ihr herübergeschlendert kam. „Das ist der reinste Zoo hier. Die Schlange an der Bar wollte gar kein Ende nehmen.“
Erstaunt schaute sie sich nach Dante um. Aber er war fort.
Nirgendwo eine Spur von ihm - weder in ihrer Nähe noch in der umherwandernden Menschenmenge.
Ben reichte ihr ein Glas Mineralwasser. Tess trank es schnell aus. Fast hätte sie ihm seinen Champagner abgenommen und den auch noch hinuntergekippt.
„Oh, Scheiße“, sagte Ben und runzelte die Stirn. „Das Glas hat einen Sprung, Tess. Du hast dir die Lippe aufgeschnitten.“
Sie hob die Hand an den Mund, während Ben hektisch nach einem Taschentuch wühlte. Ihre Fingerspitzen waren nass und von tiefem Rot.
„Lieber Himmel, tut mir das leid, ich hätte mir das Glas genauer anschauen …“
„Ist schon in Ordnung, wirklich, nicht so schlimm.“ Ob das stimmte, wusste sie nicht genau. Aber nichts von dem, was sie gerade fühlte, war Bens Schuld. Und sie musste das Glas nicht auf scharfe Kanten untersuchen, an denen sie mit der Lippe hätte hängen bleiben können - sie wusste, es hatte keine. Vielmehr musste sie sich gebissen haben, als Dante und sie … Nun, dieses seltsame Zusammentreffen wollte sie lieber schnell wieder vergessen. „Weißt du, Ben, ich bin etwas müde. Würde es dir was ausmachen, wenn wir es für heute gut sein lassen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon okay. Was immer du willst. Lass uns unsere Mäntel holen gehen.“
„Danke, Ben.“
Als sie hinausgingen, warf Tess einen letzten Blick auf die Schauvitrine, in der Endymion schlief, auf die Dunkelheit wartete und darauf, dass seine Geliebte aus einer anderen Welt zu ihm kam.